Kurz vor Wiesbaden, etwa 50 Kilometer entfernt von Frankfurt, beginnt der Rheingau. Die überwiegend ebenen Flächen des Rhein-Main-Gebiets verschwinden und werden eingetauscht durch ansteigende Hänge. Hänge, die den ersten Meilenstein eines ganz besonderen Getränks prägen. Ein Besuch.
Ich stehe vor einem großen Gebäude mit drei Eingängen. Ganz links befindet sich ein Tor aus Metall. Dahinter befindet sich ein Hof, in dem einige Geräte stehen. Rechts daneben schließt ein großes Haus aus hellbrauen Steinen an. Das große Holztor ist geöffnet. Ganz rechts ist eine Tür aus Glas. Ein Schild an der Wand signalisiert mir, dass ich richtig bin. „Winzer von Erbach“ steht in großen Buchstaben darauf geschrieben.
Als ich aussteige, kommt mir der hefige Duft gärenden Mosts entgegen. Es scheint, als seien die ersten Trauben heute schon geliefert worden. Ich schließe mein Auto ab und betrete durch das Holztor eine große Halle. Ich schaue mich um. Ein junger Mann sitzt am Steuer eines Gabelstaplers und fährt gerade raus auf den Hof. Ein Weiterer verschwindet durch eine Tür. Ein dritter steht über einem Buch und trägt Zahlen darin ein. Als er mich erblickt, kommt er auf mich zu. Er ist groß, hat kurzes grau-weißes Haar, das wie bei einem Igel von seinem Kopf absteht. Als er mich begrüßt, erkenne ich seine Stimme vom Telefon wieder.
Ronald Müller-Hagen ist Geschäftsführer der Winzergenossenschaft. Zu dieser gehören 30 Mitgliedswinzer. Auch wenn der Name es erst vermuten lässt, umfasst die Genossenschaft nicht alle Winzer des Ortes. Der gebürtige Bremer schloss nach seiner Winzerlehre den Studiengang für Weinbau und Önologie als Diplomingenieur ab. Dabei legte er seine Schwerpunkte auf die Kellerwirtschaft und den Vertrieb.
Noch bevor wir groß in ein Gespräch einsteigen können, wird er von einem seiner Mitarbeiter benötigt. Ich folge ihm auf den Hof. Ein Traktor mit Anhänger fährt gerade rückwärts hinein. Er hält an. Wie ich erfahre, befindet sich unter ihm eine Waage. Alle Achsen des Fahrzeugs werden nun zum ersten Mal gewogen. Dieser Schritt dient dazu herauszufinden wie viele Trauben der Winzer liefert.
Nachdem Ronald etwas in einen Monitor an der Wand eingetippt hat, fährt der Winzer weiter in den Hof hinein. Während er einen dicken Schlauch an den Hänger anschließt, klettern wir eine kleine Leiter hinauf und stehen hinten auf dem Anhänger. Ronald misst mit einem kleinen Gerät den Zuckergehalt der Trauben. Diese werden in Grad Oechsle angegeben und sind später für die Qualität des Weines wichtig. Als der Wagen leerer wird, sehe ich, dass sich unten eine kleine Förderschnecke befindet, die die Trauben raustransportiert. Durch den angeschlossenen Schlauch werden sie in die Kelter transportiert.
Im hinteren Teil des Hofes stehen drei Pressen, auch Keltern genannt. Um sie herum ist ein Gerüst gebaut. Als wir heraufklettern, merke ich, dass das Geländer ganz klebrig ist. Ich bin mitten im Geschehen. Die Geräuschkulisse macht es mir schwer Ronald zu verstehen. Ein Motor brummt, die Maische, die gepumpt wird, plätschert in die mittlere Kelter. Während dessen dreht sich die hinterste und der Traubensaft, Most genannt, schießt unten wie ein Wasserfall hinaus.
Als der Wagen von eben leer ist, wird die mittlere Kelter geschlossen. Kellermeister Steve Eberding erklärt, dass diese Maischestandzeit von Bedeutung ist. Im Gegensatz zu Ronald wirkt er recht klein, trägt einen Bart, sowie Gummistiefel, die ihm fast bis zu den Knien reichen. Zudem darf eine Cappie bei dem jungen Kellermeister nicht fehlen.
Die natürlichen Aromen der Trauben haben in diesem Zeitraum die Möglichkeit, sich zu entfalten und freizusetzen. Wichtig ist allerdings, dass das Lesegut dafür gesund ist. Bei Trauben mit Pilzbefall oder welchen, die bereits einen Essigstich haben, kann eine Standzeit den Most verschlechtern oder sogar ruinieren. Diese müssen dann direkt gekeltert oder sogar verworfen werden.
Die hintere Kelter dreht sich derweilen immer weiter und weiter und es kommt der Most raus. Müller-Hagen erklärt mir: „Im Inneren der Kelter ist eine Art Ballon, der immer wieder mit Luft gefüllt wird. Durch diesen Druck wird die Maische gegen eine innere, geschlitzte Saftleitung gepresst, die den Most aus der Kelter leitet. Dieser Vorgang dauert bis zu drei Stunden.
Von dort aus kommt der frische Most in große Tanks, die ebenfalls im Hof stehen. Zudem kommt noch eine sogenannte Schönung zu dem Most. Das kann Bentonit, Gelatine oder auch PVPP sein. Bentonit sorgt dafür, dass Eiweiß herausgetrennt wird, welches später sonst zu Trübungen führen kann. PVPP (Polyvinylpolypyrrolidon) hilft gegen Bitterstoffe. Diese Stoffe flocken bei dem Schönungsvorgang wieder aus, sinken zu Boden und werden dann vom Most getrennt.
Jetzt bleibt der Most über Nacht in den 27.500 Liter Tanks. In diesem Prozess setzt sich der Trub im unteren Teil ab. Nach einer Kontrolle am nächsten Tag wird dann die fast klare Flüssigkeit abgezogen. Durch ein Rohrsystem gelangt sie in den Keller. Hier findet der wichtigste Schritt der Weinherstellung statt: die Gärung. Doch zuvor wird der übriggebliebene Trub noch filtriert. Diesen einfach wegzuschütten wäre Vergeudung. Danach kommt er zu dem restlichen Saft.
Doch nun ist Zeit für eine Mittagspause. Während sich die restlichen Mitarbeiter in der Kelterhalle an eine Biertischgarnitur setzen und sich stärken, fahren Ronald und ich raus in die Weinberge. Es dauert nicht lange bis wir das erste Mal anhalten. Ronald erklärt mir, dass es hier verschiedenen Lagen gibt. So nennt man die Standorte der Anbaufläche. Michelmark, Honigberg, Steinmorgen, Klosterberg, Sandgrub und Steinmächer werden die Lagen der Winzer von Erbach genannt.
Zusammen genommen bewirtschaften die Mitgliedswinzer rund 33 Hektar Anbaufläche. Die Weinberge haben eine südwestliche Lage und schauen somit sozusagen auf den Rhein. Dadurch haben sie durch das Taunusgebirge Schutz vor Nordwinden, was ein einzigartiges Weinbauklima schafft. Diese Ausrichtung und Beschaffenheiten sind typisch für den Rheingau.
Ich bemerke, dass einige der Weinreben schon abgeerntet sind. Es hängen nur noch die Stielgerüste an den Reben. Auf anderen Feldern gibt es allerdings noch reichlich Trauben. Ich bin erstaunt, wie unterschiedliche diese aussehen. Manche sind dicker und manche nicht so prall gefüllt. Zum Teil sind sie total dunkel und andere leuchten im Schein der Sonne gelblich und man kann die Kerne klar erkennen.
Wir laufen in eines der Weinfelder hinein. Ein kleines Schild an einem Holzpfahl signalisiert mir, dass es einer der zugehörigen Winzer ist. Ronald reicht mir eine frisch gepflückte Traube. Ich probiere. Dicke Schale und total süß und fruchtig. Es handelt sich hierbei um Goldmuskateller.
Am nächsten Feld darf ich auch wieder probieren. Doch diesmal schmeckt die Traube ganz anders. Das kenne ich so nicht. Die Schale des Rieslings ist nicht so dick wie die vorherige und der Saft und das Fruchtfleisch schmecken eher süßsauer und etwas bitter. Eine letzte Traubenverkostung überrascht mich erneut. Sie schmeckt… erdig? Nach Paprika? Ronald lacht und ist total begeistert, dass ich es schmecken konnte. Er erklärt mir, dass man diese Art Geschmack vegetabil nennt. Als ich eine weitere Traube von der anderen Seite der Rebe probiere, schmeckt diese wieder anders, nämlich nach grünem Apfel. Ich bin begeistert.
Hier draußen auf den Feldern ist es nun recht still. Über das Jahr hinweg wurde hier immer wieder gearbeitet. Es mussten die Reben gehegt und gepflegt werden, damit sie gut
werden. Wenn zum Beispiel zu viele Trauben geerntet werden und der Ertrag sehr hoch ist, sind die einzelnen Trauben nicht so aromatisch. Sind zudem noch zu viele Beeren an einem Stielgerüst, können diese sich gegenseitig abquetschen und aufplatzen. Das ist die perfekte Vorlage für Pilzkrankheiten oder Essigstich. Dies versucht man natürlich zu vermeiden.
Weiter weg siehe ich eine Erntemaschine wie sie über die Reben fährt und die reifen Trauben erntet. Diese werden dann abtransportiert und der Prozess der Weinherstellung nimmt seinen Lauf.
Steve Eberding zeigt mir sein Reich. Der historische Weinkeller der Genossenschaft weist rund 800 Quadratmeter auf. Hier stehen ca. rund 80 Edelstahltanks zwischen 500 und 20.000 Litern. Als wir die alte Kellertreppe herunterlaufen, bemerke ich eine – ich würde fast schon sagen – Kältewand. Hier ist ein ganz klarer Temperaturunterschied zu oben festzustellen. Kurz läuft mir eine Gänsehaut über meinen Körper, doch schneller als ich gucken kann, ist sie auch wieder verschwunden.
Es riecht moderig und feucht. Und nicht nach Wein? Moment mal. „Es wäre ziemlich schlecht, wenn es hier zum Beispiel nach Pfirsich riechen würde. Wenn es in der Luft ist, würde das heißen die Aromen sind nicht im Wein,“ erklärt mir Steve. Das leuchtet mir ein. Die Aromen eines Weins werden übrigens nicht hinzugegeben. Dies ist sogar verboten. Der typische Geschmack nach Pirsich und Apfel bei einem Riesling lässt sich einfach auf ähnliche Aromastoffe in beiden Früchten zurückführen.
Wir bleiben vor einem der Tanks stehen. Ich sehe am unteren Teil des Tanks an der Seite eine Verdickung. Hier ist eine Art Platte angebracht. Ich erfahre, dass diese zur Temperatursteuerung des Inhaltes da sind. Doch was genau ist jetzt eigentlich in diesen Tanks?
„Der Most kommt runter und braucht Nährstoffe. Gerade in den letzten Jahren ist die Nährstoffversorgung von Natur aus ziemlich schwach. Viel Trockenstress zum Beispiel. Das heißt, wir müssen denen Nährstoffe hinzugeben. Die Hefen brauchen wie wir Menschen nahezu das Gleiche, um arbeiten zu können. Sie brauchen Aminosäuren, Magnesium – das volle Programm,“ sagt Steve.
Ronald Müller-Hagen öffnet mit einem Schlüssel, den er an seinem Schlüsselbund trägt, einen ganz kleinen Hahn an einem der Edelstahltanks. In ein Weißweinglas mit dem Genossenschafts-Logo lässt er eine helle klare Flüssigkeit laufen und reicht sie mir. Ich rieche daran. Bis auf einen leicht fruchtig-süßen Geruch nehme ich nichts wahr. Also probiere ich ihn. Ein bisschen fruchtig, fein süß und leicht. Ich erfahre, dass es sich hierbei um Most vom roten Riesling handelt, der gestern in den Tank kam. Noch fing der Gärprozess nicht an.
Trauben bringen zwar wilde Hefen mit, doch bei diesen weiß man nie so genau wie sie arbeiten. Aus diesem Grund werden noch gezüchtete Hefen hinzugegeben. Welche genau, liegt in der Hand vom Winzer und wird auf der Basis von viel Erfahrung entschieden. Die Aufgabe der Hefe ist es, aus dem Zucker, der in dem Most vorhanden ist, Alkohol herzustellen. „Dieser Prozess heißt Fermentation“, erklärt Steve.
Wir sind inzwischen am nächsten Fass angekommen. Müller-Hagen öffnet wieder einen kleinen Hahn. Diesmal sprudelt eine trübe Flüssigkeit heraus, die rosa ist. Ich probiere und merke sofort, dass dieser Most schon angefangen hat zu gären. Ein leichter Geschmack von Hefe bleibt in meinem Mund zurück, ebenso ist er ein wenig bitter, sauer und vor allem sprudelig.
Im direkten Vergleich bekomme ich noch ein drittes Glas. Die Flüssigkeit ist wieder trüb, aber diesmal hell. Auch dieser schmeckt nach Hefe und ist sprudelig. Doch im Gegensatz zu dem Spätburgunder zuvor ist dieser süßlich und fruchtig. Ich erfahre, dass beide bereits seit zehn Tagen in ihrem jeweiligen Tank arbeiten. Wir gehen weiter und Steve erklärt die restlichen Abläufe.
Ich erfahre, dass, neben den vorhin angesprochenen Nährstoffen, die Hefen eine Temperatur zwischen 16 und 18 Grad Celsius benötigen. Die Gärung selbst kann zwischen einer und vier Wochen dauern. Nun ist es an Steve die Weine regelmäßig zu probieren und zu entscheiden, welche Art Wein es werden könnte. Doch es kommt durchaus vor, dass der Wein erst zum Schluss seinen richtigen Geschmack entfaltet und plötzlich ganz anders schmeckt als zuvor.
Wenn die Hefe fertig ist mit ihrer Arbeit oder ein gewünschter Alkoholgehalt erreicht wurde, wird der erste Abstich gemacht. So nennt man den Vorgang, in dem der Wein von der Vollhefe runtergenommen wird. Die Schwebeteile, die noch im Wein sind, helfen dabei den Wein noch weiterreifen zu lassen. „Sie liegen dann so bis Januar oder Februar auf dieser Feinhefe. Das ist die Reifezeit,“ so Steve.
Bevor der Wein dann in die Flasche abgefüllt werden kann, muss er noch filtriert werden. Jegliche Trub-, Schwebe- oder Hefeteilchen müssen entfernt werden. Diese sind zwar minimal klein, aber können trotzdem dafür sorgen, dass der Wein trüb wird oder weitergärt. Das soll verhindert werden.
Unser letzter Abstecher wird oben in der Vinothek beziehungsweise in dem Verkaufsraum gemacht. Hier stehen die verschiedenen Weine zu Verkauf. Was für ein Wein am Ende in den Flaschen hier oben landet, wird anhand von analytischen Werten und der geschmacklich feststellbaren Weinqualität und Stilistik bestimmt. Dafür gibt es sehr komplexe Richtlinien. Grundsätzlich unterscheidet man aber wie folgt:
Einmal natürlich in die verschiedenen Sorten. So gibt es Riesling, Müller-Thurgau, Grauburgunder, Weißburgunder und viele weitere. In Deutschland werden überwiegend weiße Rebsorten gepflanzt. Bei den Roten dominierten der Spätburgunder und Dornfelder.
Zudem steht auf einer Weinflasche meistens der sogenannte Restzuckergehalt, der den Geschmack des Weines beschreibt. So spricht man von einem trockenen Wein, wenn der Restzucker zwischen null und neun Gramm pro Liter liegt. Ein halbtrockener Wein darf bis 18 Gramm pro Liter Restsüße haben, ein lieblicher Wein hingegen kann bis zu 45 Gramm pro Liter besitzen. Als süß werden Weine ab 45 Gramm pro Liter bezeichnet.
Grundsätzlich gibt es sogenannte Qualitätsmerkmale. Diese sind rechtlich festgelegte Maßstäbe und Standards, an denen es sich allgemein zu orientieren gilt. Dieser Qualitätsbegriff ist zudem im Weingesetz festgelegt. Hierbei gibt es innerhalb der EU gewisse Gemeinsamkeiten ebenso wie nationale Unterschiede. Trotz dessen wird für eine Chancengleichheit gesorgt.
Ich erinnere mich an vorhin, als Ronald den Öchslegrad der Trauben einer Lieferung gemessen hat. Dieser ist nämlich nun für die Prädikatsstufe ausschlaggebend. Als ich die verschiedenen Stufen höre, sind sie mir teils bereits ein Begriff. Kabinett, Spätlese, Auslese, Beerenauslese, Eiswein und Trockenbeerenauslese.
Doch es gibt noch mehr Weinqualitäten. So sind vor dem Prädikatswein noch der Qualitätswein und davor der Verarbeitungswein beziehungsweise Landwein. Letzteren stellen die Winzer von Erbach allerdings nicht her. Dieser ist im Grunde der Wein mit der niedrigsten Qualität.
Ich schaue mich im Raum um. Hier stehen einige Flaschen herum. Wenn ich genauer hinschaue, finde ich einiges davon wieder, was mir Steve eben erzählt hat. Ein Riesling Kabinett sowie eine Spätlese stehen in einem der Regale. Auch ein Eiswein sowie eine Trockenbeerenauslese fällt mir ins Auge. An einer Flasche bleibe ich hängen. Ella steht darauf. Ein Cuveé.
Ronald Müller-Hagen klärt mich auf: „Ein Cuveé ist ein Verschnitt-Wein. Hier mischt man verschiedene Weine. Unsere Ella besteht zum Beispiel aus Riesling und Goldmuskateller.“ Dies wird gemacht, um einen einzigartigen Geschmack herzustellen. Allerdings kann es auch sein, dass man zwei Weine hat, die beide allein nicht so viel hermachen. Wenn einer zum Beispiel total blumig und lieblich ist und ein anderer zu stoffig und würzig, dann ist die Mischung manchmal die beste Lösung.
Bevor ich gehe, suche ich mir noch ein paar Weine aus. Die Preise machen zuerst etwas stutzig. Bis zu 9,80 Euro zahle ich für einen Weißwein. Im Gegensatz zu den Preisen in einem Supermarkt ist das doppelt so viel. Doch jetzt, wo ich weiß, was alles dahintersteckt und was für eine Arbeit es ist, bin ich vollkommen bereit diesen Preis zu zahlen und am Abend genüsslich ein Glas Wein genießen zu können.
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Winzer von Erbach
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